Viele Investoren fragen sich in Anbetracht der so positiven Kursentwicklung seit Anfang April: Wie kann es sein, dass es der Wirtschaft so schlecht geht, die Gewinnerwartungen der Unternehmen massiv gefallen sind und der Aktienmarkt dennoch steigt?
Einen sehr schlüssigen Erklärungs-Ansatz liefert die Betrachtung des Diskontierungsfaktors bzw. des Grades der Unsicherheit der kürzlich in der „Finanz und Wirtschaft“ publiziert wurde. (vgl. hier). Ich gebe die Quintessenz hier einmal wieder:
Der Wert eines Unternehmens basiert darauf, dass das Unternehmen Gewinne bzw. Cash-Flows generiert. Der Unternehmenswert (und damit die Aktienkurse) wird so bestimmt, dass die zukünftigen Gewinne bzw. Cash-Flows auf den Gegenwartswert diskontiert werden. Neben dem erwarteten Cashflow in der Zukunft spielt damit auch die Unsicherheit der Gewinnschätzungen eine Rolle. Je unsicherer die Lage, desto höher wird man den Diskontierungsfaktor ansetzen.
Man kann das mit einem einfachen Beispiel erläutern:
- Ein nur mit Eigenkapital finanziertes Unternehmen mit Eigenkapitalkosten von 10%, das jedes Jahr einen erwarteten Gewinn von 100 erzielt, ist 1.000 wert. D.h. die 100 Euro Gewinn (bzw. Cash-Flow) ergeben mit dem Diskontierungsfaktor von 10% als „ewige Rente“ einen Unternehmenswert von 1.000.
- Fällt der erwartete Gewinn im ersten und im zweiten Jahr um 30%, also auf 70, dann ist das Unternehmen nicht gleich 30% weniger wert, sondern der Wert sinkt nur um 5% auf 948. Dieser Wert errechnet sich als Summe des diskontierten Gewinns des ersten Jahres (rund 64) plus Gewinn des zweiten Jahres (rund 58) plus alle diskontierten «ewigen» Gewinne (rund 826). Der grösste Teil des Unternehmenswerts besteht also aus dem erwarteten Gewinn in der ferneren Zukunft, die im Falle eines nur temporären Wirtschaftseinbruches durch die Pandemie nicht ändern würden.
- Steigt nun aber die Unsicherheit so, dass die Investoren einen Diskontierungssatz von 12% statt 10% verlangen, sinkt der Unternehmenswert auf rund 783, d.h. um 22%!
Im März verschärfte sich die Risikoaversion markant. Deswegen gaben die Kurse viel stärker nach, als es die gesunkenen Gewinnerwartungen allein erklärt hätten. (vgl. auch hier.) Im April und im Mai zeichnete sich für manche Länder zwar eine düstere Entwicklung hinsichtlich der Opferzahl ab. Doch die Unsicherheit bezüglich der Pandemie schwand, weshalb – dank des geringeren Diskontierungsfaktors – auch bei gleichbleibenden Gewinneinbussen die Kurse wieder stiegen.
Aus diesen Überlegungen folgt, dass die positive Markentwicklung ab April sehr wohl rational erklärbar ist. Es zeigt aber auch, dass die Investoren zwar von einem markanten Wirtschaftseinbruch ausgehen, dass sie andererseits aber langfristig keine Verschlechterung der ökonomischen Aussichten der Firmen aufgrund der Corona-Pandemie erwarten.
Das bedeutet im Umkehrschluss aber auch, dass eine Enttäuschung dieser Erwartungen und neue Unsicherheiten wieder zu einem Kursrutsch führen würde. Es ist deshalb zu erwarten, dass eine allfällige zweite (und dritte) Covid-19-Welle zu weiteren Verwerfungen führen würde, da damit auch die Unsicherheit wieder wachsen würde. Die offene Frage ist damit natürlich weiterhin – Wie wird es mit der Pandemie weitergehen? Sicher werden wir das erst in einigen Monaten abschätzen können.
Es gibt noch einen weiteren Faktor, der die Rationalität der Börsenentwicklung untermauert – die Selektivität der Kursbewegungen nach Sektoren.
Der DAX hat vom Hoch Mitte Februar bis Ende Mai ca. 18% nachgegeben. Das ist immer noch beachtlich – aber ein reiner Durchschnittswert. Wenn man sich z.B. Sektoren wie die Reisebranche, aber auch Banken, Autoindustrie oder Öl-/Gaswerte ansieht, dann sieht das Bild völlig anders aus. Der Absturz war sehr heftig und die Erholung sehr moderat. Der Bankensektor notiert zum Beispiel per Ende Mai trotz einer moderaten Erholung immer noch 40% unter dem Stand von Mitte Februar!
Die Erholung der Inidizes ist damit von einigen wenigen Sektoren – insbesondere von den Technologiewerten – getragen, die schon wieder auf dem Höchststand notieren. Besonders ausgeprägt ist diese Entwicklung damit in den USA beim Technologieindex Nasdaq. Aber auch im breiter aufgestellten S&P 500 zeigt sich, dass die sehr gute Entwicklung des Index von ganz wenigen Werten massgeblich unterstützt wurde.
Die fünf Werte Facebook, Amazon, Apple, Microsoft und Alphabet (Google) notieren in diesem Jahr bereits wieder 15% im Plus. Während die restlichen 495 Werte im S&P-Index noch 8% im Minus sind.
Würden die 500 Aktien im Index gleich gewichtet, läge das Minus seit Anfang Jahr sogar bei 13%. Die durchschnittlichen US-Titel haben also viel mehr verloren, als es der nach Marktkapitalisierung gewichtete S&P 500 vermuten lässt.
Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung erscheint die Kurs Rallye doch nicht völlig irrational. Trotzdem muss bewusst sein, dass diese Kursanstiege auf sehr dünnem Eis gebaut sind. Wenn die Unsicherheit wieder steigt und das Vertrauen der Marktteilnehmer in die Notenbanken und in die Wirkung der Notmassnahmen zur Stimulierung der Wirtschaft nachlassen, dann kann es mit den Kursen sehr schnell wieder abwärts gehen.
Die Entwicklung der letzten Monate hat jedenfalls auf eindrückliche Weise gezeigt, dass Markettiming für einen Investor die falsche Strategie ist. Wer hätte sich Mitte März getraut zu sagen, dass trotz einer USA im Ausnahmezustand, trotz über 100.000 Menschen, die am Coronavirus gestorben sind, trotz einer kollabierenden Wirtschaft mit 40 Mio. Menschen, die neu ohne Job sind, der Nasdaq-100-Index mit einer YTD-Performance von über 10% auf dem Höchststand von Mitte Februar notieren würde? Solches Ein- und Aussteigen in den Markt kann einmal funktionieren und einmal nicht. Eine nachhaltige Strategie ist es nicht, weil man dafür ja immer „gescheiter“ als der Markt sein muss. Es hat noch niemand den Beweis erbracht, dass das auf Dauer funktioniert. Was aber erwiesenermaßen funktioniert, ist die Investition in erfolgreiche Unternehmen. Natürlich „leidet“ man als Investor dann, wenn die Kurse zurückgehen. Wenn aber die fundamentale Entwicklung gut ist, dann wird auch der Kurs an der Börse sich wieder erholen und kann man langfristig an den Wertsteigerungen der Firma partizipieren. So gut wie alle großen Vermögen auf dieser Welt sind durch Wertsteigerungen von Unternehmen – an denen diese Menschen langfristig beteiligt waren – entstanden. Ich kann nur jedem langfristig orientierten Investor empfehlen, sich diese Strategie zum Vorbild zu nehmen.